Bildungsgerechtigkeit bleibt in Versmold auf der Strecke

Offener Brief an den Schulträger und die Schulleitung des CJD-Gymnasiums Versmold

Sehr geehrte Damen und Herren,

In Ihrem Rundschreiben vom 11. Mai 2020 an die Schülerschaft und die Eltern des CJD-Gymnasiums Versmold informieren Sie über Möglichkeiten und Perspektiven des digitalen Unterrichts an unserer Schule. Sie führen darin aus, dass es in allen Klassen Schülerinnen und Schüler gibt, die digitale Unterrichtsangebote aufgrund einer schlechten Internetanbindung oder fehlender Endgeräte nicht nutzen könnten. Vor diesem Hintergrund kommen Sie zu dem Schluss, dass Videounterricht und multimediale Inhalte wie Lernvideos für inhaltlich weiterführenden Unterricht nicht zur Anwendung kommen können. Auch wenn Sie gegenüber der Lokalpresse immer wieder von „digitalem Unterricht“ sprechen, erteilen Sie diesen Lernformen unter Berufung auf die Bildungsgerechtigkeit somit eine klare
Absage.

In den vergangenen Wochen des Lockdowns musste allerorts improvisiert werden und auch die Schulen hatten mit den neuen Bedingungen zu kämpfen: Abitur im Ausnahmezustand, Hygienepläne und der fehlende Kontakt zu den Schülerinnen und Schülern haben einen immensen Organisationsaufwand erzeugt. Es versteht sich von selbst, dass in diesen Zeiten nicht alles reibungslos funktionieren konnte. Auch das Lernen auf Distanz musste erst erprobt werden und dafür dürften die Eltern auch Verständnis aufbringen.

Nichtsdestotrotz standen und stehen Eltern plötzlich vor großen Herausforderungen, denn seit den Osterferien wird in vergleichsweise hohem Tempo neuer Unterrichtsstoff
„durchgenommen“. Der in der Lokalpresse vielzitierte digitale Unterricht besteht dabei jedoch häufig nur in der Bereitstellung von Arbeitsaufträgen auf einem lokalen Downloadserver. Weitergehende Angebote beruhen auf dem persönlichen Engagement einzelner Lehrerinnen und Lehrer, die mit der praktischen Umsetzung des „Fernunterrichts“ weitgehend allein gelassen werden. Inhaltsvermittlung im engeren Sinne findet häufig nicht statt, stattdessen
erhalten die Kinder in erster Linie Texte und Aufgaben.

Wenn sich Lernen auf diesem Weg tatsächlich verwirklichen ließe, bräuchte es weder Schulen noch Lehrer und so ist es nicht verwunderlich, dass viele Schülerinnen und Schülern in den letzten Wochen an ihre Grenzen gestoßen sind. Den Eltern blieb und bleibt nichts anderes übrig, als in die Rolle der Hilfslehrer zu schlüpfen und ihre Kinder bestmöglich zu unterstützen. Das tun sie sicher gern, doch viele von sind mit der Unterstützung in vielen verschiedenen Fächern fachlich oder auch zeitlich schlicht überfordert. Die schrittweise Öffnung der Schulen wird ein wenig Abhilfe schaffen, das Problem aber keineswegs lösen. Ein großer Teil des Lernens wird auch weiterhin im häuslichen Umfeld erfolgen und niemand hat eine Antwort auf die Frage, wie lange wir noch mit diesen Einschränkungen leben müssen.

An dieser Stelle kommt das digitale Lernen ins Spiel: Es gibt hinreichend empirische Evidenz für die lernförderliche Wirkung digitaler Medien im Lernprozess. Erklärfilme, selbstbewertende Online-Tests, Lernspiele und Video-Unterricht schaffen einen sehr guten Rahmen, um Lernprozesse auch auf Distanz zu verwirklichen. Viele Studien zeigen gar, dass eine Kombination aus digitalem Lernen und Präsenzunterricht zu besseren Ergebnissen führen kann als der reine Präsenzunterricht. Vor diesem Hintergrund hat mich das Rundschreiben des CJD Gymnasiums doch sehr verwundert. Sich ausgerechnet in Zeiten von Corona mit dem Argument der Bildungsgerechtigkeit von digitalen Lernangeboten zu distanzieren, erscheint geradezu absurd!

Wie gerecht ist es, den Unterricht nun stattdessen an Eltern mit unterschiedlichem Bildungsgrad zu delegieren? Dabei wird auch billigend in Kauf genommen, dass Berufstätige ihrer Arbeit nur noch eingeschränkt nachgehen können – mit allen daraus folgenden Konsequenzen. Wie gerecht ist es, wenn Schülerinnen und Schüler nun in die privaten
Nachhilfeinstitute ausweichen? Hier erhalten sie Zugang zu einem großen Pool an professionell aufbereiteten Multimedia-Materialien, Erklärfilmen, Übungsaufgaben und vor allem Live-Unterricht per Videochat. Das hat natürlich seinen Preis und so kommen nur Schülerinnen und Schüler in den Genuss dieser Angebote, deren Eltern auch über die erforderlichen finanziellen Mittel verfügen. Die Verlierer der derzeit gelebten Praxis sind also die Kinder aus Familien mit geringem Bildungsniveau und geringen sozioökonomischen Ressourcen.

Die Tatsache, dass nicht alle Haushalte über einen ausreichend schnellen Internetzugang verfügen und zum Teil auch digitale Endgeräte fehlen, darf natürlich nicht ignoriert werden. Hier müssen pragmatische Übergangslösungen gefunden werden, um allen Schülerinnen und Schülern die Teilhabe am digitalen Lernen zu ermöglichen. Auf der Suche nach solchen Lösungen muss man von Versmold aus nicht weiter als 12 km fahren oder einen Blick auf die Website des Gymnasiums Harsewinkel werfen: Das dort praktizierte Konzept setzt auf eine Mischung aus asynchronem Lernen und regelmäßigen Beratungs- und Besprechungsphasen mit Fach- oder Klassenlehrern im Videochat. All jenen Schülerinnen und Schülern mit einem unzureichenden Internetzugang bietet die Schule individuelle Arbeitsplätze an. Für die Teilnahme an Videokonferenzen wurden Einzelarbeitsplätze in kleinen Nebenräumen geschaffen. Zudem haben Schülerinnen und Schüler in Harsewinkel die Möglichkeit, iPads oder Laptops auszuleihen.

Abstandsregelungen und Hygieneauflagen werden unseren Alltag auch in Zukunft bestimmen und es wird vielleicht noch viel Zeit vergehen, bis Schülerinnen und Schüler wieder in den alten Klassenverbänden und im gewohnten Umfang unterrichtet werden können. Digitale Lernangebote könnten hier Abhilfe schaffen und den eigentlichen Unterricht vom Elternhaus zurück auf die Schule verlagern. Am CJD Gymnasium Versmold scheint ein digitales
Unterrichtskonzept jedoch nicht in Sicht.

In diesen besonderen Zeiten müssen wir Eltern zum Teil weitreichende Entscheidungen treffen, um auch in der „neuen Normalität“ wieder zu alltagstauglichen Lebensmodellen zu gelangen. Dabei ist die Situation in den Familien ganz unterschiedlich. In Abwägung der oben beschriebenen Perspektiven aber auch unter Berücksichtigung unserer individuellen Situation haben wir uns für einen Schulwechsel entschieden. Dennoch möchte ich anregen, die Haltung zu digitalen Lernangeboten noch einmal zu überdenken. Unabhängig von der Corona-Krise schreitet die digitale Transformation in unserem Land weiter voran. In Zukunft werden unsere Kinder andere Fähigkeiten und Fertigkeiten benötigen als dies heute der Fall ist: Medien- und Informationskompetenzen, Kreativität, kritisches Denken sowie die Fähigkeit zur digitalen Kollaboration und Kommunikation werden darüber entscheiden, wie erfolgreich sie sich in der
Gesellschaft behaupten werden.

Das in der vergangenen Woche von Bundesbildungsministerin Anja Karliczek vorgestellte Soforthilfeprogramm lässt hoffen, dass ein Teil der dort für die Anschaffung digitaler Endgeräte bereitgestellten 550 Millionen Euro auch in Versmold ankommt. Darüber hinaus stellen Bund und Länder im Rahmen des „Digitalpakts Schule“ Mittel für den Auf- und Ausbau von Online-Lernplattformen zur Verfügung.

Mit der Schaffung der technischen Voraussetzungen und der Auswahl geeigneter Software wird es aber nicht getan sein. Die neue Technik muss in Unterrichtskonzepte eingebettet werden und erfordert Aktivitäten auf den unterschiedlichsten Ebenen: Unterrichtspläne, Methodik und Didaktik müssen an digitales Lernen angepasst werden. Neue Kooperationen und Netzwerke müssen geknüpft und die Digitalkompetenz der Lehrerinnen und Lehrer auf dem Wege der Personalentwicklung gestärkt werden.

All das lässt sich nicht mit heißer Nadel stricken und auch die Landespolitik ist gefragt, Konzepte und landesweit einheitliche Vorgaben zu erarbeiten. Dennoch sollten sich alle Schulen in unserem Land auf den Weg machen und schon jetzt all ihre Spielräume nutzen, um in der Corona-Krise erste Erfahrungen mit dem digitalen Lehren und Lernen zu sammeln.

Wir alle wollen unseren Kindern möglichst viele Chancen eröffnen. Das bedeutet auch, ihnen einen selbstverständlichen Umgang mit digitalen Medien zu ermöglichen und sie schrittweise auf die Anforderungen der Zukunft vorzubereiten.

Ich wünsche Ihnen viel Kraft, Kreativität und Erfolg für die weitere Arbeit des CJD.

Mit freundlichen Grüßen,

Dr. Sebastian Schmidt-Kaehler

Zur Person:

Dr. Sebastian Schmidt-Kaehler ist geschäftsführender Gesellschafter der Patientenprojekte GmbH, einer auf den Bereich der Patientenkommunikation spezialisierten Organisations- und Unternehmensberatung, die sich in den unterschiedlichsten Kontexten mit der wirksamen Vermittlung gesundheitsrelevanter Informationen, aber auch mit der Schaffung nutzerfreundlicher Versorgungsstrukturen befasst. Er begleitet Projekte in Deutschland, Israel und den USA und arbeitet im Auftrag von Unternehmen, vor allem aber für Politik und Behörden, gemeinnützige Organisationen, Stiftungen und Verbände.

Von 2011 bis 2015 war der Gesundheitswissenschaftler und Diplom-Sozialpädagoge als Bundesgeschäftsführer für die strategische und operative Steuerung der Unabhängigen Patientenberatung Deutschland (UPD) verantwortlich, die im Rahmen ihres gesetzlichen Auftrags jährlich rund 80.000 Patienten und Angehörige zu rechtlichen, medizinischen und psychosozialen Fragestellungen beraten hat.

Zuvor arbeitete Schmidt-Kaehler als Senior Project Manager bei der Bertelsmann Stiftung und war an der Entwicklung der Weißen Liste, einem Internetangebot für Patienten zum Vergleich der Behandlungsqualität in Krankenhäusern, maßgeblich beteiligt. Bis dahin war Schmidt-Kaehler als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Bielefelder Fakultät für Gesundheitswissenschaften tätig wo er unter anderem an der Entwicklung eines Bachelorstudiengangs „Bachelor of Health Communication“ mitwirkte. Außerdem arbeitete er rund zehn Jahre als freier Journalist.

Schmidt-Kaehler ist Mitglied des Deutschen Netzwerks evidenzbasierte Medizin, der Deutschen Vereinigung für Soziale Arbeit im Gesundheitswesen und der Deutschen Gesellschaft für systemische Beratung und Familientherapie (DGSF). Zudem ist er Mitglied des Expertenbeirats zum Nationalen Aktionsplan Gesundheitskompetenz. Er ist Kuratoriumsmitglied der Weißen Liste gGmbH und war von 2015 bis 2017 Mitglied der Kommission für Gesundheitsberichterstattung und Gesundheitsmonitoring (GBEMON) am Robert Koch Institut.

Organisations- und Unternehmensberatung im Gesundheitswesen

Kontakt
Patientenprojekte GmbH
Dr. Sebastian Schmidt-Kaehler
Wersestraße 9b
33775 Versmold
0800/5678123
sebastian@schmidt-kaehler.de
http://www.patientenprojekte.de

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