Hybrid Working erfordert neue Führungskultur

Selbstverantwortung, Commitment und Vertrauen als Fundament für hybride Arbeitsmodelle

Autor: Reinhard F. Leiter, Executive Coach München

Arbeitgeber auf der ganzen Welt sehen sich gegenwärtig mit einem gewaltigen Umbruch in der Arbeitsorganisation konfrontiert. Spätestens seit der COVID-Pandemie und deren Auswirkungen sind sie zu einem Spagat zwischen Remote Work bzw. Homeoffice und der Büropräsenz ihrer Mitarbeiter gezwungen. Um sich bei diesem Spagat nicht die Beine zu brechen, müssen sie einen Weg finden, wie sie mit Remote Work generell umgehen und wie sie das hybride Arbeitsmodell von morgen vorbereiten und optimieren können. Sie müssen ein Gleichgewicht zwischen Remote-Mitarbeitern und denjenigen finden, die aufgrund ihrer Aufgaben oder aufgrund persönlicher Umstände nicht remote arbeiten können oder wollen.

Es geht um Verantwortung, Commitment und Vertrauen
Hybrid Work ist der Schlüssel für eine flexiblere Zukunft der Arbeitsorganisation, die den Mitarbeitern mehr Freiheit und Autonomie, wann und wo sie arbeiten wollen, zugesteht. Hybride Arbeitsmodelle ermöglichen es Unternehmen aber auch, Talente vollkommen ortsunabhängig leichter zu rekrutieren, Innovationen zu fördern und einen Mehrwert für alle Beteiligten zu schaffen. Verlangt ist nicht nur eine mutige Definition zukünftiger Arbeit, die flexibler, digitaler und zielgerichteter ist, sondern auch eine Neu-Definition der Fähigkeiten der Mitarbeiter, die den veränderten Anforderungen an die Arbeitsorganisation gerecht wird. Es geht um (Selbst-) Verantwortung, Commitment und Vertrauen.

Organisierte Unverantwortlichkeit
Sehen wir den Realitäten ins Auge: Wir leiden seit langem unter dem Übel organisierter Unverantwortlichkeit. Während wir in den vergangenen fetten 50 Jahren vor allem damit beschäftigt waren, die Prozesse in allen Unternehmensteilen ständig in Richtung Rendite zu optimieren, haben wir weniger darauf geachtet, den wichtigsten Sinn und Zweck jeder Unternehmung, den Menschen dahinter, als Quelle und Ziel allen Handelns zu sehen und zu entwickeln. Er wurde zur „Human Ressource“, zum menschlichen Mittel zum Zweck. Dabei werden die Verantwortlichkeiten klar getrennt zwischen Führungskräften als Entscheider und Mitarbeitern als Ausführende.

Rechenschaftsverantwortung mit impliziertem Anklagecharakter
Mit diesem überkommenen Führungsmodell der organisierten Unverantwortlichkeit berauben wir uns der wichtigsten Quelle unternehmerischer Freiheit und Kunst: Der Selbst- oder Eigenverantwortung vieler Mitarbeiter und ihrer intellektuellen Qualitäten. Wir lassen sie einfach brach liegen. Die Mitarbeiter haben durch jahrelange Entmündigung verlernt, Verantwortung für sich und ihre Leistung zu übernehmen. Das ist kein Wunder, wenn man das innerbetriebliche Gerangel um Zuständigkeit, Verantwortung, Schuldzuweisung und Rechtfertigung betrachtet.

Während die primäre Grundbedeutung von Verantwortung, definiert als Zuständigkeit für Aufgaben und Funktionen, Folgen und Nebenfolgen des Handelns, Entfaltungs- und Bewährungschancen eröffnet, enthüllt die sekundäre Grundbedeutung, die Rechenschaftsverantwortung mit ihrem implizierten Anklagecharakter die dunkle Seite der Verantwortung. Hierin liegt die Erklärung für die epidemische Wucherung der organisierten Unverantwortlichkeit in vielen Unternehmen.

Demotivierende Problemlösungshierarchie
Menschen können nicht verantwortlich handeln, wenn sich Führung von oben nach unten als Weisungs- und Problemlösungshierarchie aufbaut. Es gibt kaum demotivierendere Praktiken in der Chef-Mitarbeiter-Beziehung. Ein Mitarbeiter muss spüren, dass ihm vertraut wird. Denn Vertrauen ist ein wechselseitiger Prozess. Das Motto „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“ ist also Gift für die Schaffung eines Rahmens, in dem sich Selbstverantwortung entfalten kann. Die alltagspraktische Bedeutung von Selbstverantwortung bezeichnet schlicht die Bereitschaft, auch dort Zuständigkeiten wahrzunehmen, wo sie nicht vorher in einer klar abgegrenzten Aufgabenverantwortung normiert sind.

Mitarbeiter wissen, was zu tun ist
Aufgaben können delegiert werden, Verantwortung jedoch nicht. Selbstverantwortung meint die Bereitschaft, Handlungsspielräume im Licht von Gefahren und Chancen eigenaktiv auszufüllen. Es ist eine Einstellung, die nicht übertragbar ist. Aber jeder Mitarbeiter muss für seine Leistung Verantwortung übernehmen. Er muss auch entscheiden, wie dieser Job am besten zu machen ist und welche Hilfsmittel er braucht. Er muss verstehen lernen, Entscheidungen selbst zu treffen und dann mit den Konsequenzen zu leben. Grundsätzlich wissen die meisten Mitarbeiter, was zu tun ist.

Führung kann also nur heißen: den Mitarbeitern die Wahl nicht abnehmen. Die Mitarbeiter ihre eigenen Antworten finden lassen. Führung ist dafür verantwortlich, einen Rahmen zu gestalten, der jeden Mitarbeiter ermutigt und befähigt, Verantwortung für seine Leistung zu übernehmen. Das bedeutet unter anderem ein so vollständiges Informationssystem, dass die Mitarbeiter über alle relevanten Daten verfügen, die zu einer substanziellen Entscheidung notwendig sind.

Commitment ist das Versprechen „Ich tue es“
Mit dem Begriff Selbstverantwortung eng verbunden ist der Begriff Commitment, der inhaltlich zwar weitgehend deckungsgleich mit Selbstverantwortung ist, in vielen Unternehmen aber nur noch eine leere Worthülse ist. Dabei bekommt Commitment auf der Bewusstseinsebene noch die Bedeutung von Versprechen, Verpflichtung. Dieses Verständnis von Commitment umfasst die Begriffe Autonomie, Engagement, Kreativität sowie das Versprechen „Ich tu es!“ Commitment umschließt mithin die Selbst-Verantwortung auf der Handlungsebene und die Selbst-Verpflichtung auf der Bewusstseinsebene. Verantwortung wird nicht als Last, sondern als Lust empfunden.

Selbstverantwortung als lebensspendender Brunnen
Aber wie kann der Wüste der organisierten Unverantwortlichkeit in den Unternehmen die Oase der Selbstverantwortung entgegengestellt werden? Selbstverantwortung ist der lebensspendende Brunnen, der uns befähigt, in der Wüste zu leben, ohne uns mit ihr zu versöhnen. Wer darauf verzichtet, diese Oasen mit Leben zu erfüllen, wer vor der eigenen Verantwortung in die passive Verdrossenheit flieht, trägt dazu bei, dass auch die eigene Oase verwüstet wird. Was ist also der Kern der Selbstverantwortung? Die Antwort lautet: Wählen und Wollen.

Wählen
Jeder hat seine berufliche Situation, so wie sie jetzt ist, frei gewählt und muss mit den Konsequenzen leben. Aber jeder kann seine Wahl jederzeit rückgängig machen. Wer bewusst wählt, übernimmt Verantwortung und wer Verantwortung übernimmt, übernimmt die Regie für sein Leben.

Wollen
Mitarbeiter, die als „committed“ bezeichnet werden können, strahlen Energie, Konzentration, Entschiedenheit aus. Commitment-Energie zeigt sich in der Art und Weise, wie Menschen etwas tun, Initiative übernehmen, um etwas zu ändern. Reagiert die normative Kraft des Faktischen, müssen wir uns entscheiden, ob wir damit leben können, oder besser gehen sollten. Und man kann immer gehen, man muss es nur Wollen! Wenn man das Unternehmen aber partout nicht verlassen will, dann muss man seine innere Einstellung ändern. Man kann vielleicht nicht den Wind bestimmen, aber sehr wohl die Segel richten. Aber letztendlich steht jeder vor der Entscheidung: Love it, leave it or change it. Liebe ist ebenso nicht zu entbinden vom Willen, denn wer wirklich liebt, der will es auch. Letztendlich kommt es darauf an, den Denkrahmen in den Unternehmen so zu verändern, dass Selbstverantwortung ermutigt wird.

Wir müssen wollen, was wir tun
Was Unternehmen also brauchen, ist ein Bewusstseinsrahmen, in dessen Mittelpunkt die Eigeninitiative steht. Voraussetzung für Exzellenz ist die Freude am Tun. Engagement denkt nicht an morgen. Commitment im Beruf heißt dann: Ich kann, weil ich weiß, was ich will. Die Arbeit wird nicht nur getan, sie ist auch gewollt. Wir müssen wollen, was wir tun. Und Führungskräfte sind dafür verantwortlich, einen Rahmen zu schaffen, der dem Mitarbeiter hilft, sich selbst zu verpflichten, eigeninitiativ zu werden, Commitment für seine Leistung zu geben.

Der Irrweg des Vorbild-Postulats
Die Konsequenzen des vorherrschenden Vorbild-Postulats der Unternehmen sind schlicht katastrophal. Denn diese Denkfigur beruht auf dem kategorialen Irrtum, dass Vorbilder für das Erreichen der Unternehmensziele nützlich seien. Vorbilder produzieren nur Verantwortungslosigkeit, weil jeder Mitarbeiter dem Vorbild nacheifert. Führungskräfte sollten stattdessen das Vorbild in jedem Einzelnen ermutigen. Jeder Mitarbeiter stellt eine einzigartige Persönlichkeit dar und darf beanspruchen, in seiner Einzigartigkeit respektiert zu werden. Vorbild und Selbstverantwortung sind einander entgegengesetzte Begriffe. Der vorherrschende Denkrahmen muss verändert werden: Weg vom Vorbild und hin zu einem Führungsverständnis, in dem Selbstverantwortung die zentrale Denkfigur ist.

Vertrauen schafft Erwartbarkeit
Wenn die Beziehung zum Chef stimmt, sind die Mitarbeiter aller Erfahrung nach bereit, mit vielen Widrigkeiten im Unternehmen zu leben. Um die Führungsaufgabe also erfüllen zu können, braucht die Führungskraft eine vitale Beziehung zum Mitarbeiter. Und jede Beziehung beginnt mit Vertrauen. Vertrauen schafft Sicherheit und Erwartbarkeit. Es gehört Mut dazu, den Mitarbeitern die Autorität zu lassen, ihren Job so zu machen, wie sie ihn machen wollen. Aber es lohnt sich.

Fazit:
Der Erfolg von Hybrid Working hängt davon ab, wie erneuerungsfähig Unternehmen hinsichtlich (Selbst-) Verantwortung und Commitment sind. Flexibilität ist das Geheimnis einer hybriden Arbeitsumgebung. Das individuelle Eingehen auf die Mitarbeiter und die Neigung, selbstverantwortliches Arbeiten zu ermöglichen, sind die Säulen, auf denen Hybrid Working ruht. Flexibilität hinsichtlich der Wahl des Arbeitsplatzes wird aber nicht von allen gleich empfunden. Aus diesem Grund ist es für Unternehmen, die das Hybridmodell in Betracht ziehen, wichtig, einen Rahmen zu setzen, in dem die Mitarbeiter die Freiheit haben, die Entscheidungen zu treffen, die für sie funktionieren. Sie müssen wählen können, was sie wollen.

Selbstverantwortung und Commitment sind dabei kein Diktat, sondern eine Vereinbarung, die weder autoritär vorgegeben noch demokratisch abgestimmt, sondern das Ergebnis gemeinsam erarbeiteter Einsicht aller Beteiligten ist. Das gegenseitige Vertrauen in die gemeinsam getroffene Vereinbarung ist für Unternehmen von entscheidender Bedeutung, den Sprung in die hybride Arbeitswelt von morgen erfolgreich durchzuführen. Es ist Aufgabe der Führungskräfte, eine Kultur zu fördern, die auf einem transparenten und respektvollen wechselseitigen Umgang beruht, eine Kultur, in der Erwartungen nicht dekretiert, sondern verhandelt werden. Als entscheidende Verbindung zwischen der Organisation und dem Mitarbeiter wird ihre wichtigste Rolle die sein, Autonomie, Motivation und Vertrauen in ihren eigenen Teams zu fördern.

Über Reinhard F. Leiter
Reinhard F. Leiter war von 1972 bis 1981 in den Funktionen Leiter Aus- und Weiterbildung und Personalleiter in der Bayer Group tätig. Von 1982 bis 2013 leitete er bei Allianz SE das Zentrale Bildungswesen und war Head of Executive Events. Für diese Unternehmen war er auf allen fünf Kontinenten und in über dreißig Ländern tätig.

Reinhard F. Leiter war Gründungsmitglied des „Arbeitskreises Assessment Center-Führungskräfteauswahl und Entwicklung in DACH“ und jahrelang Vorsitzender dieses Vereins.
Er ist heute certified Coach für Unternehmer ,Senior Leaders und Executive Coach bei SELECTEAM.
Reinhard F. Leiter publiziert regelmäßig.

Neu erschienen sind :

„Global Coaching Excellence? A holistic approach“, Windmühle-Verlag, ISBN 978-3-86451-060-1 gemeinsam mit Dr. Werner Krings.

Reinhard F.Leiter, „Presentation Excellence – A holistic approach“, Windmühle-Verlag, ISBN 978-3-86451-039-7

Reinhard F. Leiter, „Quality Standards of Presentation Excellence“, www.reinhardfleiter.com
Professional Certificate in Coaching (PCIC) / Foundation in Coaching: Henley Business School at University of Reading GB: Certified

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